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Lawinen

Von Lawine zerstörtes Gebäude mit teilweise eingestrützem Dach

Lawinen können ganze Wälder und auch massiv gebaute Infrastruktur mitreissen oder beschädigen. Im Anriss- und Transitgebiet (Sturzbahn) gewinnt die Lawine an Geschwindigkeit und auch an Masse und Volumen, bis sie im Ablagerungsgebiet zum Stillstand kommt. Gebäude stehen in der Regel eher im Auslaufbereich von Lawinen, wo die Fliessgeschwindigkeiten durch das abflachende Terrain und die seitliche Ausbreitung geringer sind. Doch selbst bei geringen Fliesshöhen von wenigen Metern haben Lawinen noch immer eine immense Zerstörungskraft, besonders wenn sie zusätzlich Feststoffe wie Baumstämme mitführen. Der Umgang mit Lawinen hat im Bergland Schweiz eine lange Tradition und massgeblich zur Entwicklung der ersten Gefahrenkarten und zu einem risikogerechten Umgang mit Naturgefahren beigetragen.

Der Wirkungsbereich von Lawinen lässt sich eingrenzen: räumlich durch das Gelände und Schutzbauwerke, zeitlich aufgrund der Schnee- und Wettersituation (Lawinenbulletin SLF). Zum Schutz von Personen, Verkehrswegen und Gebäuden ist deshalb eine Kombination aus raumplanerischen, baulichen und organisatorischen Massnahmen besonders wirksam.

Die nationalen Schutzziele für Neubauten beziehen sich auf die Norm SIA 261/1. Diese Norm legt das 300-jährliche Ereignis fest als Schutzziel für normale Wohn- und Gewerbegebäude (BWK I) gegen gravitative Naturgefahren (Hochwasser, Erdrutsch, Murgang, Steinschlag, Lawine). Zudem sind die kantonalen und kommunalen Vorgaben zu respektieren, wobei diese die Anforderungen der Norm SIA 261/1 in der Regel nicht übersteigen. Konkret muss das Gebäude auch bei seltenen Ereignissen (300-jährlich) intakt bleiben und die sich darin befindenden Personen schützen.

Ab Bauwerksklasse II sind höhere Anforderungen zu erfüllen (Bedeutungsbeiwerte und Höhenzuschläge gemäss SIA 261/1).

Lawinen werden aufgrund der Form ihres Anrisses, ihrer Bewegung und der Schneeeigenschaften unterschieden. Von einem Punkt ausgehende Lawinen werden als Lockerschneelawinen bezeichnet. Diese lösen sich meist erst ab ca. 40° Hangneigung. Am häufigsten und bereits in Hängen ab ca. 30° Neigung treten Schneebrettlawinen auf, für welche ein linienförmiger Anriss und ein sehr plötzliches Losbrechen auf einer klar definierten Gleitschicht charakteristisch sind. Befindet sich diese Gleitschicht direkt an der Bodenoberfläche, spricht man auch von Boden- oder Grundlawinen. Für die Bemessung von Schutzmassnahmen besonders relevant ist der Bewegungsmechanismus, mit dem die Schnee- und Eismassen ins Tal gleiten, fallen oder stürzen. Dabei wird zwischen Fliesslawinen und Staublawinen unterschieden, wobei es auch Mischformen gibt. Fliess- und Staublawinen können gleichzeitig auftreten und jede grössere Lawine kann Feststoffe wie Holz, Geröll oder andere mitgerissene Objekte mit sich führen.

Eine feuchte Fliesslawine zerstörte am 25. April 1986 einen Teil des Dorfes Mogno (TI).
Eine feuchte Fliesslawine zerstörte am 25. April 1986 einen Teil des Dorfes Mogno (TI). Die Ablagerungshöhen betrugen 5 bis 10 m. Die Lawine bestrich praktisch den gesamten Schwemmkegel. Foto: Archiv SLF.
Eine Staublawine geht im Vallée de la Sionne (VS) nieder.
Eine Staublawine geht im Vallée de la Sionne (VS) nieder. Das SLF betreibt dort ein Versuchsgelände, um die Einwirkungen von Staub- und Fliesslawinen zu erforschen. Die Fliesshöhe der Staubwolke beträgt rund 50 m. Die Wirkung einer Staublawine ist mit einem starken Sturm vergleichbar. Foto: Archiv SLF.
Schneegleiten in Davos Frauenkich (GR) im Januar 2019.
Schneegleiten in Davos Frauenkich (GR) im Januar 2019. Die Schneedecke bewegt sich langsam (einige Millimeter bis Meter pro Tag) in Talrichtung. Typisch ist bei starkem Schneegleiten die Rissbildung in der Schneedecke (Fischmaul). Befindet sich ein Gebäude in der gleitenden Schneedecke, entsteht Schneedruck. Foto: Stefan Margreth.

Fliesslawinen bewegen sich primär fliessend oder gleitend auf der Unterlage (Schneeschicht oder Bodenoberfläche) und bleiben während der Bewegung mit dem Boden direkt in Kontakt. Fliesslawinen erreichen maximale Geschwindigkeiten von bis zu 40 m/s und haben eine typische Dichte von 200‑300 kg/m3. Bei Nassschneelawinen liegen die Geschwindigkeiten zwischen 10 und 20 m/s, die Dichte um 300-500 kg/m3. Im Auslaufbereich haben Fliesslawinen eine typische Fliesshöhe von 2-10 m und Geschwindigkeiten unter 10 m/s. Die dadurch entstehenden Staudrücke können Gebäude zerstören.

Staublawinen entwickeln sich immer aus Fliesslawinen. Sie gleichen einer aufgewirbelten, trockenen Schneewolke, die sich mit 20 bis 80 m/s stiebend durch die Luft bewegt. Staublawinen bestehen aus einer bodennahen Saltationsschicht und einer Suspensionsschicht. Die Dichte der Suspensionsschicht ist viel geringer und die Fliesshöhe grösser als bei einer Fliesslawine. Reine Staublawinen ohne Fliessanteil entstehen zum Beispiel, wenn die Fliesslawine beim steilen Absturz vollständig suspendiert wird oder wenn sich der Fliess- und der Staubanteil aufgrund der Geländeverhältnisse trennen. Selbst bei Gegengefälle können Staublawinen noch auf grossen Strecken Schaden anrichten. Der erzeugte Staudruck vermag Bäume und Leitungsmasten zu knicken und Fenster und Dächer von Gebäuden schwer zu beschädigen. An der Gebäudefassade bleibt der angepresste Schneestaub sichtbar. Staublawinen erreichen im Auslaufbereich oft Fliesshöhen von mehr als 50 m. In den untersten 5 m führen sie zum Teil Schneebrocken mit. In dieser sogenannten Saltationsschicht treten ähnliche Kräfte auf wie in einer Fliesslawine, darüber sind sie deutlich geringer.

Schneedruck entsteht durch das langsame, anhaltende Gleiten und Kriechen der Schneedecke an Hängen. Bereits ab einer minimalen Hangneigung von 15° kann Schneegleiten einsetzen. Besonders gefährdet sind mässig steile Hänge ab 25° Neigung mit geringer Bodenrauigkeit und hoher Sonneneinstrahlung. Eine grössere Hangneigung, vernässter Untergrund, grosse Schneehöhen und langanhaltende Wärmeperioden verstärken die Kriech- und Gleitbewegungen. Typisch für hohe Schneegleitaktivität ist ein sichelförmiges Aufreissen der Schneedecke (sog. «Fischmaul») sowie ein Stauchwall am Hangfuss. Eine abgleitende Schneedecke kann grosse Druck- und Scherkräfte auf Hindernisse ausüben.

Fachinformationen bezüglich Schneelast auf Gebäude finden Sie in der Norm SIA 261 sowie bei den Hintergrundinformationen Schnee.

Weitere Fachbegriffe

  • Die Schneehöhe beschreibt die Höhe der Schneedecke.
  • Die Fliesshöhe entspricht der Höhe, mit der sich die Lawine bewegt.
  • Die Stauhöhe gibt an, wie hoch der Schnee beim Anprall der Lawine steht (Aufstau an Hindernis).
  • Die Dichte (Raumlast) von Schnee ist innerhalb der Schneedecke unterschiedlich und nimmt in der Regel mit der Liegedauer zu (Altschnee hat eine 2-5 Mal höhere Dichte als trockener Neuschnee).
  • Der Staudruck (dynamischer Druck) entspricht der Erhöhung des Drucks an der angeströmten Fläche eines Hindernisses.
  • Als Ebenhöch werden Gebäude genannt, deren Dach bergseits nahtlos ans Terrain oder an eine Anschüttung anschliesst.

Fliess- und Staublawinen können mit Lawinenmodellen simuliert werden. Hierzu stehen heute ein- und zweidimensionale Lawinenberechnungsmodelle zur Verfügung, beispielsweise:

  • AVAL-1D für die eindimensionale Berechnung von Fliess- und Staublawinen
  • RAMMS::Avalanche für die zweidimensionale Berechnung von Fliesslawinen
  • RAMMS::Extendend für die zweidimensionale Berechnung von Staublawinen (noch nicht kommerziell erhältlich; das SLF führt aber im Auftragsverhältnis entsprechende Simulationen durch)

Zur Bestimmung der Einwirkungen und für die Bemessung von Schutzmassnahmen an Gebäuden werden folgende Informationen benötigt:

  • Art der Lawine
  • Fliesshöhe
  • Fliessgeschwindigkeit
  • Fliessrichtung
  • Dichte der Lawine.

Bei Staublawinen genügt als Bemessungskriterium ein Richtwert bezüglich des zu erwartenden Staudrucks. Diese Angaben können aus den Intensitätskarten und dem technischen Bericht abgeleitet werden. Die Intensitätsstufen geben einen ersten Hinweis über die am Standort zu erwartenden Einwirkungen. Existieren keine Intensitätsangaben, sind diese durch eine Lawinenfachperson zu bestimmen.

 

Intensitätsstufen von Lawinen

Intensitätsstufen von Lawinen

Starke Intensität

qfn,k > 30 kN/m2

Mittlere Intensität

3 kN/m2 > qfn,k ≤ 30 kN/m2

Schwache Intensität

qfn,k ≤ 3 kN/m2

Intensität von Fliess- und Staublawinen in Gefahrenzonen
Lawinendrücke und Druckverteilung in Bezug auf rote, blaue und gelbe Gefahrenzonen
Druckverteilung von Fliess- und Staublawinen in Gefahrenzonen
Lawinendrücke und Druckverteilung in Bezug auf rote, blaue und gelbe Gefahrenzonen

Zur einfacheren Verständigung wurden die hier und in den Gefährdungsbildern aufgeführten Bezeichnungen der Norm SIA 261/1 angeglichen.

Symbol / Einheit

Bezeichnung ­

A [m2]

Fläche

Ak [kN/m2]

Statische Ersatzkraft bei Anprall
b [m] Breite

cd ­

Widerstandsbeiwert

g [m/s2]

Erdbeschleunigung (10 m/s2)
h [m] Dicke der Stahlbetonwand

hf [m]

Fliesshöhe

hg [m]

Gebäudehöhe

hn [m]

Schneehöhe

hsalt [m]

Höhe der Saltationsschicht der Staublawine

hstau [m]

Stauhöhe am Hindernis

hsusp [m]

Höhe der Suspensionsschicht der Staublawine

kT ­

Gleitbeiwert

kφ ­

Kriechbeiwert

Λ ­

Energieumwandlungskonstante
l [m] Spannweite der Stahlbetonwand

lgw [m]

Länge der Gebäudewand
m [t] Masse

qf,β [N/m2]

um den Ablenkwinkel β reduzierter hydrodynamischer Druck

qfn [N/m2]

Druck der Fliesslawine

qfn,k [N/m2]

Charakteristischer Wert des Drucks der Fliesslawine

qfr [N/m2]

Spezifische Reibung

qnk [N/m2]

charakteristischer Wert des Schneedrucks

qsalt [N/m2]

Druck der Saltationsschicht der Staublawine

qsusp [N/m2]

Druck der Suspensionsschicht der Staublawine

vf [m/s]

Fliessgeschwindigkeit

vsalt [m/s]

Geschwindigkeit der Saltationsschicht der Staublawine

vsusp [m/s]

Geschwindigkeit der Suspensionsschicht der Staublawine
α [°] Ablenkwinkel
β [°] Öffnungswinkel des Spaltkeils, Hangneigung

γf ­

Bedeutungsbeiwert

μfr ­

Reibungsbeiwert

ρf [kg/m3]

Dichte der Fliesslawine

ρfa [kg/m3]

Dichte der Feststoffablagerung

ρn [kg/m3]

Schneedichte

ρsusp [kg/m3]

Dichte der der Suspensionsschicht

Die nachfolgend aufgeführten Gefährdungsbilder stammen inhaltlich aus der VKF-Wegleitung «Objektschutz gegen gravitative Naturgefahren» von 2005, resp. dem unveröffentlichten technischen Update zu dieser Wegleitung von 2015. Sie wurden 2020 teilweise in die überarbeitete Norm SIA 261/1 integriert und repräsentieren in dieser Form die anerkannten Regeln der Baukunde. Zur besseren Verständigung wurden die hier dargestellten Abbildungen und Erläuterungen der Norm SIA 261/1 angeglichen.

Gefährdungsbild 1: Fliesslawine prallt auf Gebäude

Die Fliesslawine prallt an die Stirnseite eines Gebäudes und umfliesst es. Durch den Anprall entsteht eine Stauhöhe hstau, welche zusammen mit der Fliesshöhe hf und der natürlich abgelagerten Schneehöhe hn die Gebäudehöhe nicht überragt. Auf die Dachkonstruktion wird daher keine direkte Einwirkung ausgeübt. Der Druck qfn auf der Gebäudeaussenseite stellt die Haupteinwirkung dar. Diese wird durch die Gebäudeform, die Schneedichte und die Fliessgeschwindigkeit beeinflusst. Die Fliessgeschwindigkeit wird über die gesamte Fliesshöhe als konstant angenommen. Für die Seitenwände und alle schräg angeströmten Wände ist ein um den entsprechenden Zufliesswinkel α reduzierter Druck zu berücksichtigen, die sich bei einer Ablenkung der Schneemassen um α ± 20° gegenüber der Hauptfliessrichtung ergeben. Zusätzlich wirken Reibungskräfte (qf,r) auf diese Wände. Der Anprall von Feststoffen (Baumstämme oder Gesteinsblöcke) ist als statischer Ersatzdruck Ak zu berücksichtigen.

Eine Fliesslawine prallt auf ein Bauwerk und umfliesst dieses seitlich

Gefährdungsbild 2: Fliesslawine überfliesst Gebäude

Die Wirkungshöhe der Lawine (Schneehöhe hn, Fliesshöhe hf und Stauhöhe hstau) ist grösser als die Gebäudehöhe hg. Es sind sowohl Drücke qf auf die Wände als auch auf vorspringende Dachbereiche von unten (qf,v) zu berücksichtigen. Durch das Überfliessen des Gebäudes entsteht eine vertikale Auflast qa, welche zusätzlich zur natürlich abgelagerten Schneelast qn für das Dach zu berücksichtigen ist. Zudem sind die Wände und das Dach der Reibung qf,r ausgesetzt. Der Anprall von Feststoffen (Baumstämme oder Gesteinsblöcke) ist als statischer Ersatzdruck zu berücksichtigen.

Gefährdungsbild Fliesslawine prallt auf ein Bauwerk und überfliesst es

Gefährdungsbild 3: Fliesslawine umfliesst Bauwerk Ablenkmassnahmen (Spaltkeil)

Dieser Sonderfall des Gefährdungsbildes 1 ist vergleichbar mit der Lawineneinwirkung auf Leitmauern und -dämme, wobei die Ablenkmassnahme den Lawinendruck reduziert. Auf den Spaltkeil wirken Drücke qfn,b infolge Umfliessen und Reibung qfr,b. Der Ablenkwinkel b sollte 30° nicht überschreiten, weil die Lawine sonst wie bei einem Anprall auf das Gebäude trifft (Gefährdungsbild 1). Zudem muss der Spaltkeil ausreichend hoch sein, damit er nicht überflossen werden kann (Gefährdungsbild 2).

Bemessungssituation 2: Fliesslawine umfliesst das Bauwerk dank Ablenkwirkung eines Spaltkeils

Gefährdungsbild 4: Fliesslawine überfliesst ein in das Terrain eingepasstes Gebäude (Ebenhöch)

Dies ist ein Sonderfall des Gefährdungsbildes 2 und übertragbar auf Lawinengalerien. Für die Bemessung gilt sinngemäss Fall 2 der Richtlinie «Einwirkungen infolge Lawinen auf Schutzgalerien» (ASTRA/SBB, 2007). Gemäss Norm SIA 261/1 setzt sich die Einwirkung zusammen aus der natürlich abgelagerten Schneedecke, dem bewegten Lawinenschnee und allenfalls aus der Umlenkung der Lawine, wenn die Distanz zwischen Gefällsbruch und Dach des Ebenhöchs kleiner ist als die sechsfache Fliesshöhe hf. Die Einwirkung setzt sich aus der natürlich abgelagerten Schneedecke, dem bewegten Lawinenschnee und allenfalls aus der Umlenkung der Lawine zusammen, wenn die Distanz zwischen dem Gefällsbruch und dem Dach des Ebenhöchs kleiner als die sechsfache Fliesshöhe hf ist.  Das Dach des Ebenhöchs sollte nicht in diesen Bereich der erhöhten Umlenkkraft fallen. Die Belastung erfolgt in Form von normal und tangential (Reibung) angreifenden Kräften. Für die Seitenwände und allfällige schräg angeströmten Wände sind ein um den entsprechenden Zufliesswinkel α reduzierter Druck und die Reibung zu berücksichtigen.

Bemessungssituation 4: Fliesslawine überfliesst ein in das Terrain eingepasstes, als Ebenhöch ausgebildetes Gebäude

Gefährdungsbild 5: Staublawine wirkt auf Gebäude ein

Die Einwirkung einer Staublawine auf ein Gebäude ist vergleichbar mit der Einwirkung durch Wind. Die Staudrücke der Suspensionsschicht qsusp und der Saltationsschicht qsalt wirken auf die lawinenseitige Aussenwand gemäss Norm SIA 261/1, wobei die Staudrücke qsusp mit der Höhe abnehmen. Auf das Dach, die Rückwand und die Seitenwände wirken Sog- und Druckkräfte, die gemäss Norm SIA 261 (Kapitel Wind) zu berechnen sind.

Bemessungssituation 3: Staublawine prallt auf Bauwerk

Gefährdungsbild 6: Schneedruck an Hängen

Die gleitende und kriechende Schneedecke wirkt hangabwärts als Schneedruck qnk auf die bergseitige Aussenwand eines Gebäudes. Wesentliche Einflussfaktoren sind die Höhe und Dichte der Schneedecke, die Neigung und die Exposition des Hangs sowie die Bodenbedeckung.

Die Norm SIA 261/1 repräsentiert die anerkannten Regeln der Baukunde zur Dimensionierung und Bemessung von Schutzmassnahmen gegen Lawinen. Zur Illustration der Zusammenhänge und besseren Verständigung werden hier einzelne Auszüge aus dieser Norm abgebildet und erläutert. Inhaltlich stammt ein Grossteil dieser Informationen aus der VKF-Wegleitung «Objektschutz gegen gravitative Naturgefahren» von 2005, resp. einem technischen Update derselben von 2015.

Für die Bemessung von Schutzmassnahmen ist zwingend die Originalversion der Norm SIA 261/1 zu konsultieren.

Stauhöhe von Fliesslawinen:

Die Stauhöhe einer Fliesslawine wird massgeblich durch deren Geschwindigkeit vf beeinflusst. Für Objekte, die wesentlich breiter sind als die Fliesshöhe der Lawine beträgt die Stauhöhe:

Die Energieumwandlungskonstante Λ hängt von der Beschaffenheit des Lawinenschnees ab:

  • Λ = 1,5 für lockere, trockene Lawinen
  • Λ = 2 bis 3 für dichte, nasse Lawinen

Druck von Fliesslawinen:

Der Druck einer Fliesslawine auf eine senkrechte Wand wird massgeblich beeinflusst durch die Geschwindigkeit der Lawine vf. Überdies sind die Dichte des Lawinenschnees ρf und der Ablenkwinkel α von Bedeutung. Vergleiche hierzu die Formeln gemäss Norm SIA 261/1 Kapitel 7.3.2.

Entsprechend dem Gefährdungsbild 1 ist der Druck einer Fliesslawine über deren gesamte Fliesshöhe hf konstant und im Bereich der Stauhöhe hstau linear gegen null abnehmend. Bei der Anströmung einer Fliesslawine an ein grosses Bauwerk (Breite > 5 m) im Winkel α betragen der Lawinendruck qf,n und die Reibungskraft qfr:

Reibungskoeffizient μ je nach Kontaktfläche und Feuchtigkeit

Beispiel: Auf ein senkrecht zur Lawinenrichtung stehendes (α = 90°), ebenes und grosses Hindernis der Bauwerksklasse BWK I (ϒf = 1.0) wird von einer trockenen Fliesslawine mit einer Dichte ρf von 300 kg/m3 und einer Fliessgeschwindigkeit vf = 10 m/s ein Lawinendruck qf von 30 kN/m2 ausgeübt. Bei schräger Anströmung mit α = 75° beträgt qf noch rund 28 kN/m2, wobei zusätzlich eine Reibungskraft von 8 bis 11 kN/m2 resultiert (je nach Rauigkeit der Oberfläche).

Parallel zur Fliessrichtung stehende Seitenwände sind mit einem Lawinendruck und einer spezifischen Reibung zu bemessen, welcher sich bei einer Ablenkung der Schneemassen um a = ± 20° ergibt. Speziell im Auslaufbereich kann sich die Bewegungsrichtung von Lawinen stark verändern, wodurch sich „fingerartige“ Lawinenablagerungen ergeben.

Durch den Aufprall auf Wände können vertikal nach oben gerichtete Kräfte entstehen, welche beispielsweise auf Dachvorsprünge und Balkonplatten einwirken:

Für die Ermittlung des Lawinendrucks auf schmale Objekte siehe Praxisleitfaden Seilbahnen von Margreth et al. (2015).

Druck der Staublawine:

Der Druck einer Staublawine auf eine senkrechte Wand ist massgeblich beeinflusst durch die Geschwindigkeit und Dichte der Lawine. Dabei sind die Einwirkungen der bodennahen Saltationsschicht und der darüber liegenden Suspensionsschicht zu unterscheiden, wobei diese zeitgleich auftreten. Zusätzlich ist der Anprall von Festkörpern wie Bäumen, Steine usw. zu berücksichtigen. Vergleiche hierzu die Normen SIA 261/1 Kapitel 7.3.3 und 6.3.17 sowie SIA 261 Kapitel 6 «Wind».

Die Einwirkungen der Saltationsschicht ermitteln sich analog zu den Fliesslawinen (siehe Norm SIA 261/1 Kapitel 7.3.2), wobei der resultierende Druck qsalt über die Höhe der Saltationsschicht hsalt konstant bleibt.

Die Einwirkungen der Suspensionsschicht sind vergleichbar mit den Einwirkungen infolge Wind. Die grössere Dichte der Staublawine (1 und 10 kg/m3) gegenüber derjenigen der Luft erhöht entsprechend den Staudruck qsusp. Der innerhalb der Suspensionsschicht auftretende Lawinendruck qsusp beträgt gemäss Norm SIA 261/1 Ziffer 7.3.3.4 maximal:

Auf das Dach, die Rückwand und die Seitenwände eines Bauwerks wirken Sog- und Druckkräfte (siehe Norm SIA 261 Kapitel 6).

Vertikale Auflast:

Für natürlich abgelagerten Schnee kann als Richtwert eine Dichte von 0.4 [t/m3] angenommen werden. Für abgelagerten Lawinenschnee ist als Richtwert von 0.5 [t/m3] auszugehen, bei fliessenden Lawinen von 0.3 [t/m3] (trockene Lawine) bis 0.4 [t/m3] (nasse Lawine).

Vertikale Umlenkung:

Der statische Druck qu infolge vertikaler Umlenkung (Gefährdungsbild 4) auf Dachbauten (Ebenhöch) ist gemäss der Lawinengalerie Richtlinie (Richtlinie ASTRA, 2007):

Nach dem Geländeknick ist die Umlenkkraft über eine Distanz von 1.5·hf stark erhöht und beträgt 4 qu (siehe Abbildung Ebenhöch).

Anprallkraft von Einzelkomponenten:

Können Baumstämme oder grössere Blöcke von der Lawine mitgerissen werden, so ist zusätzlich zum Druck der Lawine eine Anprallkraft solcher Einzelkomponenten zu berücksichtigen.

Gemäss Norm SIA 261/1 Ziffer 6.3.17 sind beim Anprall von Blöcken in Lawinen in der Regel grosse Tragwerksverformungen zulässig, sodass kleinere statische Ersatzkräfte wie folgt angesetzt werden können:

Statische Ersatzkräfte infolge Anprall von Blöcken in einer Lawine (Beispiele gemäss Norm SIA 261/1 6.3.17)

Masse m [kg]

Geschwindigkeit vn [m/s]

Energie Etrans [kJ]

statische Ersatzkraft Ak [kN]
(Durchstanzen | Biegung)

100

5

1.2

40 | 10

100

10

5

150 | 38

500

5

6.2

190 | 50

500

10

25

780 | 190

1000

5

12.5

390 | 100

1000

10

50

1500 | 380

Diese Einzellasten wirken gleichzeitig mit dem Lawinendruck. Sie können an beliebiger Stelle innerhalb der Fliesshöhe auftreten und verteilen sich gleichmässig über die Anprallfläche A.

Die statische Ersatzkraft eines anprallenden Baumstammes Ak kann gemäss Norm SIA 261/1 Ziffer 7.3.2.12 wie folgt abgeschätzt werden:

Verhält sich die betroffene Wand nicht duktil sondern spröd (Durchstanzen der Einzellast), so sind entsprechend höhere statische Ersatzkräfte für die Bemessung massgebend (Sturz).

Schneedruck infolge Schneegleitens und -kriechens an Hängen

Der statische Druck infolge Schneegleitens und -Kriechens hängt ab von der Schneedichte ρn, der Hangneigung b, der lotrechten Schneehöhe hn, dem Kriechbeiwert k und dem Gleitbeiwert kT ab. Er kann gemäss Norm SIA 261/1 Ziffer 8.3.3 wie folgt abgeschätzt werden:

Der berechnete Druck ist gültig für grosse Objektbreiten. Bei schmalen Objekten und im Randbereich grosser Objekte können erhöhte Randkräfte auftreten, die von einer Fachperson zu ermitteln sind (siehe Praxisleitfaden Seilbahnen, Margreth et al. 2015).

Die Schneehöhe hn kann für eine Wiederkehrdauer von 100 Jahren gemäss der Richtlinie BAFU/WSL (2007) bestimmt werden. Der Richtwert für die Schneedichte ρn variiert zwischen 300 kg/m3und 400 kg/m3. Für den Kriechbeiwert k kann bei trockenem Schnee k = 0,76 sin(2*b) eingesetzt werden und bei feuchten Verhältnissen k = 0,83 sin(2*b). Der Gleitfaktor kT ist abhängig vom Bodenbewuchs und der Exposition:

Bodenbedeckung

Exposition WNW-N-ENE

Exposition ENE-S-WNW

Grober Blockschutt (> 0.3 m), vereinzelte Felsblöcke

1.2

1.3

Geschlossene Gebüschflächen (> 1 m), stark ausgebildete Höcker (< 0.1 m), stark ausgebildete Kuhtritte, grobes Geröll

1.6

1.8

Kurzhalmige Grasnarbe, feines Geröll (< 0.1 m), schwach ausgebildete Höcker (< 0.5 m), Grasnarbe mit schwach ausgebildeten Kuhtritten

2.0

2.4

Glatte, langhalmige, geschlossene Grasnarbe, glatte Felsplatten

2.6

3.2

Tragwerksversagen:

Die Mehrzahl der Schäden entsteht aufgrund von zu schwach dimensionierten Konstruktionen, welche die auftretenden Kräfte nicht genügend aufnehmen können.

Eine Staublawine hat im Lawinenwinter 1999 in Leukerbad (VS) strukturelle Schäden an Gebäuden verursacht.
Eine Staublawine hat im Lawinenwinter 1999 in Leukerbad (VS) strukturelle Schäden an Gebäuden verursacht. Infolge starker Hubkräfte (ca. 3 bis 5 kN/m2) wurde ein Teil dieses Dachgeschosses komplett weggerissen. Foto: Archiv SLF.
Dieser Holzbau in Biel-Selkingen (VS) wurde durch eine Fliesslawine stark deformiert.
Dieser Holzbau in Biel-Selkingen (VS) wurde durch eine Fliesslawine stark deformiert. Das massive Kellergeschoss wurde nicht beschädigt. Foto: Stefan Margreth.
Schneegleiten in Davos Frauenkich (GR) im Januar 2019.
Schneegleiten in Davos Frauenkich (GR) im Januar 2019. Die Schneedecke bewegt sich langsam (einige Millimeter bis Meter pro Tag) in Talrichtung. Typisch ist bei starkem Schneegleiten die Rissbildung in der Schneedecke (Fischmaul). Befindet sich ein Gebäude in der gleitenden Schneedecke, entsteht Schneedruck. Foto: Stefan Margreth.
Eine Lawine mit grossem Holzanteil hatte dieses als Ebenhöch ausgestaltete Gebäude beschädigt.
Eine Lawine mit grossem Holzanteil hatte dieses als Ebenhöch ausgestaltete Gebäude beschädigt. Die über das Dach transportierten Baumstämme bewirkten beim Anprall grosse Einzellasten, welche bei der Bemessung des Daches nicht berücksichtigt wurden. Foto: Stefan Margreth.

Versagen einzelner Bauteile wie Fenster, Türen und Tore:

Oft drückt eine Lawine Fenster, Türen und Tore aus den Zargen, weil die Bänder zu wenig stabil sind, oder es werden ganze Wände eingedrückt.

Ein Lawinenniedergang hat am 10. Januar 2019 an der Schwägalp (AR) zu Schäden geführt und u.a. dieses Tor eingedrückt.
Ein Lawinenniedergang hat am 10. Januar 2019 an der Schwägalp (AR) zu Schäden geführt und u.a. dieses Tor eingedrückt. Die Lawinendrücke betrugen rund 2 kN/m2. Der Raum wurde auf seiner ganzen Länge mit 1 bis 2 m Schnee gefüllt. An der eigentlichen Gebäudestruktur entstanden keine Schäden. Foto: Stefan Margreth.

Schäden an der Dacheindeckung und an Aufbauten:

Beim Überfliessen des Daches reisst die Lawine – und die von ihr mitgeführten Feststoffe – die Dacheindeckung sowie Aufbauten mit.

Eine Lawine hat das Dach dieses Gebäudes in Biel-Selkingen im Goms (VS) angehoben.
Eine Lawine hat das Dach dieses Gebäudes in Biel-Selkingen im Goms (VS) angehoben. Die Fliesshöhe betrug mehr als 4 m und der vertikale nach oben gerichtete Lawinendruck betrug am Dachrand rund 6 kN/m2. Foto: Stefan Margreth.
Ein besonders exponierter Teil des Dachs dieses Landwirtschaftsgebäudes in Lungern (OW) wurde infolge starker Hubkräfte einer Staublawine teilweise abgedeckt.
Ein besonders exponierter Teil des Dachs dieses Landwirtschaftsgebäudes in Lungern (OW) wurde infolge starker Hubkräfte einer Staublawine teilweise abgedeckt. Die von links nach rechts fliessende Staublawine erzeugte Drücke von rund 1 bis 2 kN/m2. Die von der Staublawine mitgerissenen Dachziegel können für andere Objekte gefährlich werden. Foto: Stefan Margreth.

Mit konzeptionellen und verstärkenden Massnahmen lässt sich die Gefährdung von Personen und Sachwerten erheblich reduzieren, beispielsweise indem das Gebäude optimal geschützt in das Gelände eingepasst wird oder durch die Wahl einer geeigneten Gebäudeform und -ausrichtung. Zusätzlichen Schutz erzielen Sie mit ausreichend dimensionierten und dem Gebäude vorgelagerten Schutzmassnahmen, wie Auffang- oder Ablenkmauern beziehungsweise -dämmen und Spaltkeilen. Vermeiden Sie Öffnungen in der lawinenzugewandten Aussenwand und sehen Sie im lawinenzugewandten Bereich nur Räume mit kurzer Aufenthaltsdauer von Personen vor. Aussenwände und Öffnungen bedürfen einer verstärkten Bauweise.

Vorschläge für Schutzmassnahmen zu einzelnen Bauteilen und zum konzeptionellen Vorgehen:

Naturgefahren-Check

ASTRA (2012): Naturgefahren auf den Nationalstrassen: Risikokonzept. Methodik für eine risikobasierte Beurteilung, Prävention und Bewältigung von gravitativen Naturgefahren auf Nationalstrassen, Bundesamt für Strassen, Bern.

Egli, Th. (2005): Wegleitung Objektschutz gegen gravitative Naturgefahren. Vereinigung Kantonaler Feuerversicherungen, Bern.

PLANAT (2011): Risikokonzept für Naturgefahren. Nationale Plattform Naturgefahren, Bern.

Präventionsstiftung der Kantonalen Gebäudeversicherer (2014): Prevent-Building – eine Methodik und ein Werkzeug zur Beurteilung der Wirksamkeit und Zumutbarkeit von Objektschutzmassnahmen an Gebäuden gegen gravitative und meteorologische Naturgefahren. Bericht Phase 1 mit Anpassungen aus Phase 2. Arbeitsgemeinschaft Prevent-Building: WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, Egli Engineering AG, Geotest AG, B,S,S,. Volkswirtschaftliche Beratung, Version 12.05.2014. (Download)

Suda J. und Rudolf-Miklau F. (Hrsg.) (2012): Bauen und Naturgefahren, Handbuch für konstruktiven Gebäudeschutz. Springer, Wien.

Staub, B. (2017): Gebäudeschutz gegen Naturgefahren. FAN Agenda 2/2017. Fachleute Naturgefahren Schweiz. (Download)

ASTRA (2007): Richtlinie Einwirkungen infolge Lawinen auf Schutzgalerien. Bundesamt für Strassen ASTRA in Zusammenarbeit mit SBB AG Infrastruktur, Bern.

BFF (1984): Richtlinien zur Berücksichtigung der Lawinengefahr bei raumwirksamen Tätigkeiten. Bundesamt für Forstwesen / Eidg. Institut für Schnee- und Lawinenforschung, EDMZ, Bern.

GVA (1994): Vorschriften für bauliche Massnahmen an Bauten in der blauen Lawinenzone. Gebäudeversicherungsanstalt des Kantons Graubünden.

Leuenberger, F. (2003): Bauanleitung Gleitschneeschutz und temporärer Stützverbau, Eidg. Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, Davos.

Margreth, S. (2007): Lawinenverbau im Anbruchgebiet. Technische Richtlinie als Vollzugshilfe. Umwelt-Vollzug Nr. 0704. Bundesamt für Umwelt BAFU, Bern, WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, Davos.

Margreth, S. (2016): Ausscheiden von Schneegleiten und Schneedruck in Gefahrenkarten. WSL Berichte, Heft 47.

Rudolf-Miklau, F. und Sauermoser, S. (Hrsg.), 2011: Handbuch Technischer Lawinenschutz. Ernst & Sohn GmbH & Co. KG. Berlin. 464 S.

Salm, B et al. (1990): Berechnung von Fliesslawinen. Eine Anleitung für Praktiker mit Beispielen, Mitteilung Nr. 47, Eidg. Institut für Schnee- und Lawinenforschung, Davos.

Margreth, S., Stoffel, L., Schaer, M. (2015): Berücksichtigung der Lawinen- und Schneedruckgefährdung bei Seilbahnen. Ein Leitfaden für die Praxis. WSL Berichte 28.

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