Lawinen
Lawinen können ganze Wälder und auch massiv gebaute Infrastruktur mitreissen oder beschädigen. Selbst im Auslaufbereich und bei wenigen Metern Fliesshöhe haben Lawinen noch immer eine immense Zerstörungskraft, besonders wenn sie zusätzlich Feststoffe wie Baumstämme mitführen. Der Wirkungsbereich von Lawinen lässt sich eingrenzen: räumlich durch das Gelände und Schutzbauwerke, zeitlich aufgrund der Schnee- und Wettersituation (Lawinenbulletin SLF). Zum Schutz von Personen, Verkehrswegen und Gebäuden ist deshalb eine Kombination aus raumplanerischen (Gefahrenkarten), baulichen und organisatorischen Massnahmen besonders wirksam.
Die nationalen Schutzziele für Neubauten beziehen sich auf die Norm SIA 261/1. Diese Norm legt das 300-jährliche Ereignis fest als Schutzziel für normale Wohn- und Gewerbegebäude (BWK I) gegen gravitative Naturgefahren (Hochwasser, Erdrutsch, Murgang, Steinschlag, Lawine). Zudem sind die kantonalen und kommunalen Vorgaben zu respektieren, wobei diese die Anforderungen der Norm SIA 261/1 in der Regel nicht übersteigen. Konkret muss das Gebäude auch bei seltenen Ereignissen (300-jährlich) intakt bleiben und die sich darin befindenden Personen schützen.
Ab Bauwerksklasse II sind höhere Anforderungen zu erfüllen (Bedeutungsbeiwerte und Höhenzuschläge gemäss SIA 261/1).
Lawinen können nach unterschiedlichen Kriterien klassiert werden. Für die Gebäudeschutzmassnahmen ist die Unterscheidung zwischen Fliesslawinen und Staublawinen zentral. Jede grössere Lawine kann Feststoffe wie Holz, Geröll oder andere mitgerissene Objekte mit sich führen.
Fliesslawinen bewegen sich fliessend oder gleitend auf dem Boden und erreichen maximale Geschwindigkeiten von bis zu 145 km/h bei einer typischen Dichte von 200‑300 kg/m3. Nassschneelawinen bewegen sich langsamer und haben eine höhere Dichte (300-500 kg/m3). Im Auslaufbereich haben Fliesslawinen eine typische Fliesshöhe von 2-10 m und Geschwindigkeiten unter 40 km/h. Ihre Druckwirkung kann Gebäude zerstören.
Staublawinen bestehen aus einer aufgewirbelten, trockenen Schneewolke (typische Dichte 5-10 kg/m3), die sich mit 70 bis 300 km/h stiebend durch die Luft bewegt. Staublawinen erreichen im Auslaufbereich oft Fliesshöhen von mehr als 50 m. In den untersten 5 m führen sie zum Teil Schneebrocken mit. Selbst bei Gegengefälle können Staublawinen noch auf grossen Strecken Schaden anrichten. Der entstehende Druck vermag Bäume und Leitungsmasten zu knicken und Fenster und Dächer von Gebäuden schwer zu beschädigen. An der Gebäudefassade bleibt der angepresste Schneestaub sichtbar.
Schneedruck (oft auch „Gleitschnee“ genannt) entsteht durch das Gleiten und Kriechen der Schneedecke an Hängen. Dieser ist ab einer Hangneigung von mindestens 25° zu berücksichtigen, insbesondere an stark besonnten Böschungen mit geringer Bodenrauigkeit. Eine grössere Hangneigung, vernässter Untergrund, grosse Schneehöhen und langanhaltende Wärmeperioden verstärken die Kriech- und Gleitbewegungen. Typisch für hohe Schneegleitaktivität ist ein sichelförmiges Aufreissen der Schneedecke (sog. „Fischmaul“) sowie ein Stauchwall am Hangfuss. Eine abgleitende Schneedecke kann grosse Druck- und Scherkräfte auf Hindernisse ausüben.
Weitere Fachbegriffe
- Die Schneehöhe beschreibt die Höhe der Schneedecke.
- Die Fliesshöhe entspricht der Höhe, mit der sich die Lawine bewegt.
- Die Stauhöhe gibt an, wie hoch der Schnee beim Anprall der Lawine steht (Aufstau an Hindernis).
- Die Dichte (Raumlast) von Schnee ist innerhalb der Schneedecke unterschiedlich und nimmt in der Regel mit der Liegedauer zu (Altschnee hat eine 2-5 Mal höhere Dichte als trockener Neuschnee).
- Der Staudruck (dynamischer Druck) entspricht der Erhöhung des Drucks an der angeströmten Fläche eines Hindernisses.
- Als Ebenhöch werden Gebäude genannt, deren Dach bergseits nahtlos ans Terrain oder an eine Anschüttung anschliesst.
Fliess- und Staublawinen können mit ein- und zweidimensionalen Lawinenberechnungsmodellen simuliert werden. Für die Bestimmung der Einwirkungen und für die Bemessung von Objektschutzmassnahmen sind Angaben zur Lawinenart, Fliesshöhe, -Geschwindigkeit und ‑Richtung sowie der Dichte der Lawine erforderlich.
Bei Staublawinen genügt als Bemessungskriterium ein Richtwert bezüglich des zu erwartenden Staudrucks. Diese Angaben können aus den Intensitätskarten und dem technischen Bericht zur Gefahrenkarte abgeleitet werden. Die Intensitätsstufen geben einen ersten Hinweis über den an einem spezifischen Standort zu erwartenden Lawinendruck. Existieren keine Intensitätsangaben, sind diese durch eine Lawinenfachperson zu bestimmen.
Die nachfolgend aufgeführten Gefährdungsbilder stammen inhaltlich aus der VKF-Wegleitung «Objektschutz gegen gravitative Naturgefahren» von 2005, resp. dem unveröffentlichten technischen Update zu dieser Wegleitung von 2015. Sie wurden 2020 teilweise in die überarbeitete Norm SIA 261/1 integriert und repräsentieren in dieser Form die anerkannten Regeln der Baukunde. Zur besseren Verständigung wurden die hier dargestellten Abbildungen und Erläuterungen der Norm SIA 261/1 angeglichen.
Gefährdungsbild 1: Fliesslawine prallt auf Gebäude
Die Fliesslawine prallt an die Stirnseite eines Gebäudes (Aufstau) und umfliesst es. Wenn die Lawine die Gebäudehöhe nicht überragt, wirkt sich dies nicht auf die Dachkonstruktion aus. Massgebend ist der Druck der Lawine und der mitgeführten Feststoffe auf die betroffenen Gebäudeaussenseiten und die zusätzlichen Reibungskräfte auf diese Wände. Bei schräger Anströmung reduziert sich der Druck auf die Gebäudeaussenseiten.
Gefährdungsbild 2: Fliesslawine überfliesst Gebäude
Ist die Wirkungshöhe der Lawine (Schneehöhe + Fliesshöhe + Stauhöhe) grösser als die Gebäudehöhe, sind zusätzlich zum Gefährdungsbild 1 auch vorspringende Dachbereiche betroffen. Es entsteht eine vertikale Auflast auf das Dach, die zusätzlich zur natürlich abgelagerten Schneelast zu berücksichtigen ist. Zudem sind die Wände und das Dach Reibungskräften ausgesetzt.
Gefährdungsbild 3: Fliesslawine umfliesst Bauwerk dank Ablenkmassnahmen (Spaltkeil)
Dieser Sonderfall des Gefährdungsbildes 1 ist vergleichbar mit der Lawineneinwirkung auf Leitmauern und -dämme. Der Druck auf den Spaltkeil reduziert sich um den Ablenkungswinkel, weil die Lawine das Hindernis umfliesst. Der Ablenkwinkel darf allerdings höchstens 30° betragen, da die Lawine sonst wie bei einem Anprall auf das Gebäude trifft (Gefährdungsbild 1). Zudem muss der Spaltkeil ausreichend hoch sein, damit er nicht überflossen werden kann (Gefährdungsbild 2).
Gefährdungsbild 4: Fliesslawine überfliesst in das Terrain eingepasstes Gebäude (Ebenhöch)
Dies ist ein Sonderfall des Gefährdungsbildes 2, übertragbar auf Lawinengalerien (Richtlinie ASTRA/SBB, 2007). Auf das ebenerdig angeordnete Dach wirken die Auflast der fliessenden resp. abgelagerten Lawine und des natürlich abgelagerten Schnees sowie Reibungskräfte.
Gefährdungsbild 5: Staublawine prallt auf das Gebäude
Gefährdungsbild 6: Typische Bemessungssituation bei Schneedruck an Hängen
Das Schneegleiten und -kriechen übt Druck auf die betroffenen Gebäudeaussenseiten aus. Wesentliche Einflussfaktoren sind die Höhe und Dichte der Schneedecke, die Hangneigung und die Exposition sowie die Bodenbedeckung.
Tragwerksversagen:
Die Mehrzahl der Schäden entsteht aufgrund von zu schwach dimensionierten Konstruktionen, welche die auftretenden Kräfte nicht genügend aufnehmen können.
Versagen einzelner Bauteile wie Fenster, Türen und Tore:
Oft drückt eine Lawine Fenster, Türen und Tore aus den Zargen, weil die Bänder zu wenig stabil sind, oder es werden ganze Wände eingedrückt.
Schäden an der Dacheindeckung und an Aufbauten:
Beim Überfliessen des Daches reisst die Lawine – und die von ihr mitgeführten Feststoffe – die Dacheindeckung sowie Aufbauten mit.
Mit konzeptionellen und verstärkenden Massnahmen lässt sich die Gefährdung von Personen und Sachwerten erheblich reduzieren, beispielsweise indem das Gebäude optimal geschützt in das Gelände eingepasst wird oder durch die Wahl einer geeigneten Gebäudeform und -ausrichtung. Zusätzlichen Schutz erzielen Sie mit ausreichend dimensionierten und dem Gebäude vorgelagerten Schutzmassnahmen, wie Dämmen und Spaltkeilen. Vermeiden Sie Öffnungen in der lawinenzugewandten Aussenwand und sehen Sie im lawinenzugewandten Bereich nur Räume mit kurzer Aufenthaltsdauer von Personen vor. Aussenwände und Öffnungen bedürfen einer verstärkten Bauweise.
Vorschläge für Schutzmassnahmen zu einzelnen Bauteilen und zum konzeptionellen Vorgehen:
ASTRA (2012): Naturgefahren auf den Nationalstrassen: Risikokonzept. Methodik für eine risikobasierte Beurteilung, Prävention und Bewältigung von gravitativen Naturgefahren auf Nationalstrassen, Bundesamt für Strassen, Bern.
Egli, Th. (2005): Wegleitung Objektschutz gegen gravitative Naturgefahren. Vereinigung Kantonaler Feuerversicherungen, Bern.
PLANAT (2011): Risikokonzept für Naturgefahren. Nationale Plattform Naturgefahren, Bern.
Präventionsstiftung der Kantonalen Gebäudeversicherer (2014): Prevent-Building – eine Methodik und ein Werkzeug zur Beurteilung der Wirksamkeit und Zumutbarkeit von Objektschutzmassnahmen an Gebäuden gegen gravitative und meteorologische Naturgefahren. Bericht Phase 1 mit Anpassungen aus Phase 2. Arbeitsgemeinschaft Prevent-Building: WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, Egli Engineering AG, Geotest AG, B,S,S,. Volkswirtschaftliche Beratung, Version 12.05.2014. (Download)
Suda J. und Rudolf-Miklau F. (Hrsg.) (2012): Bauen und Naturgefahren, Handbuch für konstruktiven Gebäudeschutz. Springer, Wien.
Staub, B. (2017): Gebäudeschutz gegen Naturgefahren. FAN Agenda 2/2017. Fachleute Naturgefahren Schweiz. (Download)
ASTRA (2007): Richtlinie Einwirkungen infolge Lawinen auf Schutzgalerien. Bundesamt für Strassen ASTRA in Zusammenarbeit mit SBB AG Infrastruktur, Bern.
BFF (1984): Richtlinien zur Berücksichtigung der Lawinengefahr bei raumwirksamen Tätigkeiten. Bundesamt für Forstwesen / Eidg. Institut für Schnee- und Lawinenforschung, EDMZ, Bern.
GVA (1994): Vorschriften für bauliche Massnahmen an Bauten in der blauen Lawinenzone. Gebäudeversicherungsanstalt des Kantons Graubünden.
Leuenberger, F. (2003): Bauanleitung Gleitschneeschutz und temporärer Stützverbau, Eidg. Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, Davos.
Margreth, S. (2007): Lawinenverbau im Anbruchgebiet. Technische Richtlinie als Vollzugshilfe. Umwelt-Vollzug Nr. 0704. Bundesamt für Umwelt BAFU, Bern, WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, Davos.
Margreth, S. (2016): Ausscheiden von Schneegleiten und Schneedruck in Gefahrenkarten. WSL Berichte, Heft 47.
Rudolf-Miklau, F. und Sauermoser, S. (Hrsg.), 2011: Handbuch Technischer Lawinenschutz. Ernst & Sohn GmbH & Co. KG. Berlin. 464 S.
Salm, B et al. (1990): Berechnung von Fliesslawinen. Eine Anleitung für Praktiker mit Beispielen, Mitteilung Nr. 47, Eidg. Institut für Schnee- und Lawinenforschung, Davos.
Margreth, S., Stoffel, L., Schaer, M. (2015): Berücksichtigung der Lawinen- und Schneedruckgefährdung bei Seilbahnen. Ein Leitfaden für die Praxis. WSL Berichte 28.